Benutzerinnen - in der Folge "Benutzer" genannt - sind als amateurhafte Akteure im Handlungsfeld
Bibliothek zu definieren. Sie unterscheiden sich von den professionellen Akteuren - in der Folge
"Fachpersonal" genannt - durch spezifische Handlungsmuster, die hier in der Formulierung verschiedener
"Typen" theoretisch erfaßt werden sollen.
Der ängstliche Benutzer hemmt sich selbst. Legt man am Katalog Karten
ein, so sendet er zwar nonverbale Signale aus, daß er mit dem Katalog nicht zurechtkommt,
er würde es jedoch nie wagen, von sich aus eine Frage zu stellen. Nein, er will angesprochen
werden, worauf er zwar seine Frage stellt, oft aber in Befürchtung, das Fachpersonal
von der Arbeit abzuhalten, gar nicht richtig hinhört oder Folgefragen nicht stellt. Dadurch
generiert sich die Situation aufs Neue: Er kommt nicht weiter, sendet Signale aus ...
Das Fachpersonal leidet am meisten unter dem Besserwisser, der stets die vollständige
Literaturangabe hat, der weiß, in welcher Systematikgruppe das Buch eigentlich eingeordnet
hätte werden müssen, der weiß, wie Arbeitsabläufe, Öffnungszeiten,
Entscheidungsprozesse besser hätten organisiert werden können, damit er
früher, leichter, bequemer zu seinen Büchern kommt. Er honoriert es übrigens
nicht, wenn ihm das Fachpersonal beipflichtet, das Verhalten bleibt. - Vielleicht sollte hier noch
angemerkt werden, daß der Anteil der wissenschaftlichen Mitarbeiter und hier wieder der
Professoren an diesem Typus überproportional hoch ist.
Der kooperative Benutzer ist fast unentbehrlich im Alltag des Fachpersonals.
Er gibt Hinweise auf Fehler in der Ordnung des Katalogs, trägt Zeitungen in die
Bibliothek, macht interessante Buchvorschläge, ... sprich: Er langt zu, wo es notwendig
ist und gleicht die kleinen Fehler aus, die dem Fachpersonal unterlaufen,
ohne dies auch nur aufblähen zu wollen. Der Nutzen des kooperativen
Benutzers liegt nicht nur in seiner Hilfe, sondern auch in der atmosphärischen
Verbesserung des Arbeitsklimas, da das Fachpersonal so den Eindruck bekommt, daß
seine Arbeit wahrgenommen und als wichtig gewertet wird. Der Kooperative gibt positive
Rückmeldung in Tat und Wort!
Vom verträumten Benutzer hat man oft den Eindruck, daß er eigentlich
nur jemanden, der die Bibliothek benutzt, begleitet. Er zieht spielerisch die Schubkästen
des Katalogs heraus, blättert kurz, um sie dann gleich wieder zuzuschieben und
dasselbe Spiel aufs Neue zu beginnen. Dann schlendert er in der Bibliothek umher, schaut
auf die Hinweistafeln, ohne daß man den Eindruck eines zielgerichteten Handelns
hat. Am Regal verfährt er ebenso wie am Katalog: Er zieht spielerisch ein Buch heraus ...
Er ist der Flaneur der Bibliothek. Manchmal stellt er am Schluß des Spazierganges
dem Fachpersonal eine Frage, das sich dann wundert, daß er konkret nach einem Buch
oder Thema sucht. Oft verschwindet er aber wieder, ohne daß man weiß, ob es nur eine
Stippvisite war oder eine Suche, die erfolglos abgebrochen wurde.
Dieser Typus kann dem (weiblichen) Fachpersonal den Aufenthalt in
der Bibliothek vermiesen und es zwingen, die Arbeiten in der Bibliothek
außerhalb der Öffnungszeiten zu machen. Ein Bibliotheksverfolger
ist wie durch Zauber da, wenn man in die Bibliothek kommt, glotzt einen nur
an oder gewöhnt sich auch an, Fragen zu stellen, denen man anmerkt,
daß sie im Moment erfunden wurden. Der Bibliotheksverfolger nervt und
verleidet einem den Umgang mit den anderen Benutzern.
Dieser Typus ist der Yeti des Bibliothekswesens. Es ist zudem fraglich,
ob er überhaupt einen Typus darstellt, da er sich durch Nicht-Verhalten
auszeichnet. Vielleicht ist der Nicht-Fragende daher eher anderen Typen
(s. Ängstlicher, s. Verträumter) zuzuordnen. Woher weiß
das Fachpersonal dann überhaupt, daß es ihn gibt? Einfach durch
einen logischen Schluß aus der empirischen Erfahrung: Die Menge der
Nichtfragenden ist zu definieren durch die Menge der Fragen, die gestellt werden,
wenn das Fachpersonal am Katalog präsent ist, minus der Menge der
Fragen, die gestellt werden, wenn das Fachpersonal sich in seinen Diensträumen
abseits der Bibliothek befindet. Hinzu kommt die unbekannte Menge der Fragen, die auch dann
nicht gestellt werden, wenn Gelegenheit dazu wäre.
Im Gegensatz zum Nichtfragenden hinterläßt er deutliche
Spuren: Offenstehende Karteikästen an den Katalogen, Bücher,
die im Regal liegen und denen man ansieht, daß sie einfach kurz
herausgezogen und dann liegengelassen wurden, stehengelassene
Kaffeebecher ... Der Schlamper hinterläßt nichts als Ärger
(für das Fachpersonal, aber auch für andere Benutzer) und
Arbeitsaufwand. Dem Schlamper ist nicht beizukommen, da bereits wenige
Schlamper dafür sorgen können, daß die Bibliothek unordentlich
aussieht und ihre Benutzung weniger Spaß macht.
Der Eilige ist sofort an Laufschritt und einer speziellen Zeichensprache,
wie beispielsweise Fingertrommeln oder gehetztes Anstarren des Fachpersonals,
zu erkennen. Wenn er auftaucht, verbreitet sich sofort Hektik in der Bibliothek.
Die Dringlichkeit seiner Fragestellung läßt es ihn als unnötig
erachten, sich in einer längeren Schlange anzustellen. Er erwartet vom
Fachpersonal, daß seinen Wünschen in Sekundenschnelle entsprochen
wird. Sollte es dem ignoranten Fachpersonal nicht möglich sein, seine Eile zu
erkennen und schnellstens auf ihn einzugehen, verläßt er zutiefst gekränkt
und in Windeseile die Bibliothek. - Oftmals bedient er sich auch des Telefons, um
sich den umständlichen und zeitraubenden Gang in die Bibliothek zu ersparen.
Der Einfachheit halber gibt er auch gleich seine Faxnummer an, damit er umgehend
mit Information beliefert werden kann.
Der faule Benutzer tritt dankenswerterweise nicht oft in Erscheinung,
weil ihm die Benutzung der Bibliothek schon zu viel ist. Leider gibt es jedoch
Gelegenheiten, wo er sich ihrer bedienen muß (meist in Abschlußarbeits-
und Examenszeiten), worauf er dann doch auf das Fachpersonal zurückgreift,
um mit möglichst wenig Aufwand das Ziel zu erreichen. Erkennen kann
man ihn an der fehlenden Reaktion und am unschuldigen Blick, wenn man
ihn zur Eigenaktivität auffordert, denn er will getan bekommen. Es
nützt nichts, ihm beibringen zu wollen, wie man einen Katalog benutzt und
wie man die Recherche korrekt durchführt, nein, er will, daß man für
ihn den Katalog benutzt und ihn am Händchen zu den relevanten Büchern
führt. Er hätte nichts dagegen, wenn man ihm noch sagte, wie
er die Arbeit/die Examensthemen aufbauen und welche Literatur er insbesondere
benutzen soll. Meist wird er durch die Unwilligkeit des Fachpersonals dann doch
zur Aktivität gezwungen.
Der empörte Benutzer hat klare Vorstellungen, wie etwas zu sein
hat. Er äußert diese im Ton des Vorwurfs dort, wo die Gegebenheiten
seinen Vorstellungen nicht entsprechen. Meist ist ihm die Begabung eigen,
seine Beanstandungen auf eine allgemeine Ebene zu heben. Das Fachpersonal
gerät durch ihn regelmäßig in Rechtfertigungsnot ("Warum
kann ich nicht Bücher aus der Bibliotheksaufsicht ausleihen?! Ist hier
die Lehrmittelfreiheit etwa aufgehoben?!") Ein freundlicher Ton und die Gabe,
ein Gespräch abbrechen zu können, wenn es sich inhaltlich im
Kreise dreht, ist die notwendige Gegenmaßnahme.
Die hier theoretisch formulierten Typen kommen in Wirklichkeit nur selten
in Reinform vor. Meist treten sie in der Realität als Mischtypen auf. Wenn
z.B. der Typus des Kooperativen positiv zu bewerten ist, so ist er in der Mischung
des besserwisserischen Kooperativen schon fast nicht mehr erträglich.
Kooperative Faule sind recht akzeptabel, während fahrige Faule einen
auf die Palme treiben können, da man ihnen schon wieder das sagen
darf, was man ihnen bereits dreimal mitgeteilt hat. Mit empörten Normalen
kann man in der Regel zurechtkommen, während empörte Besserwisser
äußerst schlecht zu haben sind (hier eskaliert die Sache meist rasch).
Es sei betont, daß diese Untersuchung einseitig ist, da hier
nur die amateurhaften Akteure im Handlungsfeld Bibliothek charakterisiert wurden.
Natürlich wäre es ein Desiderat, auch die professionellen Akteure
zu charakterisieren. Dies müßte jedoch von anderer Seite geschehen,
da das Fachpersonal zu wenig Abstand zu sich selbst und zu wenig Erfahrung mit sich
selbst hat, als daß diese Aufgabe gelingen könnte.
Text aus: Tübinger Bibliotheksinformationen (TBI), 16.1994, H. 1., S. 12-13, 39, 46, 51, 59.
Autor: Jürgen Plieninger (bis auf die Typen "Der Dauergast" und "Der Eilige", die von einer Arbeitsgruppe
von Kolleginnen aus der UB Tübingen formuliert wurden)
© Jürgen Plieninger