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Abstracts
der Vorträge für die Tagung
PROF.
DR. TAT'JANA ARTEMEVA (ST. PETERSBURG): DAS LEBEN DES RUSSISCHEN
CANDIDE Der Vortrag ist der Autobiographie eines marginalen
russischen Philosophen gewidmet, Ivan Ertov (1777-1842), die
bisher erst in Auszügen veröffentlicht wurde. Die
Aufklärung als "Epoche der Galanterie" ist der
Forschung vor allem durch Romane und Memoiren über die
adlige Elite bekannt, und die Folklore gibt einen Einblick in das
Leben der Bauern; über die kleine russische ‚Mittelklasse',
die Bewohner der Hauptstadt, ist dahingegen fast nichts bekannt.
Ertov gehörte dieser dünnen Schicht der Gesellschaft
an, er stammt aus einer Familie von Altgläubigen und kommt
aus der niederen Kaufmannsschicht. Vertreter dieser Klasse wurde
von Gogol' und Dostoevskij als "malen'kie ljudi"
beschrieben. Doch die russischen Schriftsteller haben das
Intimleben ihrer Helden immer ausgespart, wir kennen sie nur als
"soziale Typen". Ertovs Autobiographie ist in dieser
Hinsicht außergewöhnlich, denn sie gibt Einblicke in
die intimen Geheimnisse eines solchen "malen'kij celovek";
Ertov beschreibt seine Liebesaffären und seine sexuellen
Vorlieben sehr offen. Er porträtiert seine zwei Ehen und
seine sexuellen Perversionen und lässt den Leser auf diese
Weise zum Voyeur seines Intimlebens werden.
PROF.
DR. JOOST J. VAN BAAK (GRONINGEN): GRENZEN DES KÖRPERS,
GRENZEN DES SUBJEKTS In dem Vortrag geht es um die Frage bzw.
die Krise des Individiuums als Phänomen in der russischen
Literatur. Wie funktionieren die literarischen semiotischen
Strategien, die das Individuum modellieren, wie sehen seine
räumlichen und modalen oder moralischen Grenzen aus, wie
wird das Konzept ‚Verantwortung' entworfen? Ausgehend von
dieser Fragestellung wird die These vertreten, dass Intimität
von einer fundamentalen Ambivalenz bestimmt ist, die sowohl die
freiwillige gegenseitige Selbstentblößung umfasst als
auch das Extrem der Vernichtung (Zerstörung) der Intigrität
des Individuums. Aus dieser Perspektive wird das Individuum bei
einer Reihe von Autoren untersucht, unter anderem bei Platonov
(Intimität als eine Form räumlichen Utopismus),
Cvetaeva, Sorokin.
MA
NATALIA BORISSOVA (KONSTANZ): DIE LYRIK DER PHYSIKER In der
Geschichte des sowjetischen Kinos gilt Michail Romms Film 9 dnej
odnogo goda als typischer Tauwetterfilm. Er war der Auslöser
für die berühmte Diskussion zwischen "Physikern"
und "Lyrikern". Die zeitgenössischen Rezensenten
lobten an diesem Werk die Selbstentbehrung des Haupthelden, der
bereit ist, mit seinem Leben für den Fortschritt der
Wissenschaft zu zahlen. Sie legten die Geschichte als eine
originelle Variation des Mythos vom heldenhaften Wissenschaftler
aus. In dieser Deutungsvariante übernimmt die
Liebesgeschichte in der Filmhandlung eine den Haupthelden
bestätigende Funktion. Die weibliche Hauptfigur wählt
von den zwei Bewerbern schließlich den opferbereiten
Wissenschaftler aus, was die "Richtigkeit" seines
Handelns unterstreicht. Dies ist ein Verfahren, dass im Film wie
auch in der Literatur der fünfziger und sechziger Jahre
vielfach belegt ist. Der Film 9 dnej odnogo goda besitzt
jedoch eine zweite Bedeutungsschicht, die in der öffentlichen
Diskussion der sechziger Jahre nicht thematisiert wurde. Der Film
entdeckt Seiten der Liebesproblematik neu, wie sie durch die
russische Avantgarde dargestellt worden war, und nimmt dabei
unmittelbaren Bezug auf Abram Rooms Film Tret'ja mešcanskaja.
Der Vortrag zeigt diese Traditionslinie auf, doch als zentral für
die Interpretation soll auf die Frage nach der Funktion des
Zitierens der Avantgardetradition im Kontext der sowjetischen
Kultur der sechziger und siebziger Jahre eingegangen werden. Ein
weiterer Schwerpunkt des Vortrags soll die Rolle der vor- und
außerehelichen Sexualität für die
Selbstbeschreibung der kulturellen Eliten der sechziger Jahre
aufzeigen, die für ihre Darstellung in der Gegenwart (so in
Ivan Dychovicnyjs Film Kopejka) eine Schlüsselrolle spielt.
DR.
LJUBOV' BUGAEVA (SALZBURG): INTIMES TAGEBUCH. DAS GEDÄCHTNIS
DES KÖRPERS UND DER TEXT
Das
autobiographische Gedächtnis, das sich vom allgemeinen
Gedächtnis über Ereignisse und vom episodischen
Gedächtnis unterscheidet, ist unterteilt in eine
reproduktives und/oder rekonstruierendes Gedächtnis über
wichtige Ereignisse der individuellen Geschichte und in das immer
rekonstruktive Gedächtnis der zeitlichen Lokalisierung
dieser Ereignisse. Das intime Tagebuch als eine Form des
autobiographischen Gedächtnisses balanciert zwischen der
Repoduktion und der Rekonstruktion, je nachdem, wie bewusst das
Subjekt sich seiner Ich-Objektheit ist und wie ehrlich, emotional
etc. dieses Subjekt ist. Dabei ist das autobiographische Bild des
intimen Tagebuchs kein Doppelgänger des Objekts, sondern des
kontextuellen Feldes, in das das im Tagebuch
abgebildete/beschriebene Auto-Objekt eingeschrieben ist. Die
Erfahrung der Verzerrung des Bildes oder der Ereignisse gibt
Aufschluss darüber, wie das Ich sein könnte und in
welcher Eigenschaft dieses Ich die Semiose beginnt. Die
Varianten, sich als Objekt zu interpretieren, umfassen auch das
Körpergedächtnis - das intime Tagebuch kann danach
streben, das Körperbild mithilfe visueller
Körperrepräsentationen ikonisch in den Text
"einzudrucken" oder aber die nichtlinguistischen
Zeichen der Körpererfahrung in ein anderes Zeichensystem zu
übertragen. Am Beispiel intimer Tagebücher aus dem 20.
Jahrhundert werden die grundlegenden Formen der Reproduktion und
Rekonstruktion des Körpergedächtnisses im Text
untersucht werden.
DR.
OKSANA BULGAKOVA (STANFORD): DIE GRENZEN DES INTIMEN. BEWEGUNGEN
ZWISCHEN 1910 UND 1930
Das
gestische Verhalten der Sowjetbürger musste sich von der
'externen', nicht-sowjetischen Welt unterscheiden, wurde aber
zugleich, absichtlich oder unabsichtlich, eine Aufzeichnung des
inneren (historischen und kulturellen) Gegensatzes zwischen den
Generationen (den "Vätern" der 1920er und 30er
Jahre, den "Söhnen" der 1960er Jahre und der
"Enkel" der 1990er Jahre). Situiert am Schnittpunkt des
Politischen, Ideologische, Kulturellen und Biologischen,
ermöglicht Körpersprache eine einzigartige Einsicht in
die anthropologische Dimension einer Gesellschaft, einer
Gesellschaft, deren erklärtes Ziel die Erschaffung des Neuen
Sowjetischen Menschen der Moderne war. Das sowjetische Kino, das
sich dem neuen sozialen Modell anpassen musste, das es aber auch
hervorbringen sollte, nutzte sehr eklektische Quellen für
diese neue Konstruktion. Als die Revolution soziale Normen und
Traditionen ‚störte', erfuhr die sowjetische
Gesellschaft einen radikalen Wechsel im gestischen Code. Die
Abschaffung gestischer Restriktionen wurde als Befreiung des
natürlichen Menschen begriffen, "schlechte Manieren"
wurden als sozial akzeptable Manieren aufgewertet, und einige
Körper-Techniken, die auf den privaten Raum beschränkt
gewesen waren, wie zum Beispiel das Waschen und Leibesübungen,
wurden jetzt im öffentlichen Raum akzeptiert. Dahingegen
wurden einige Gesten aus dem öffentlichen Bereich in ein
sehr privates Ambiente übertragen; so lassen sich in vielen
sowjetischen Filmen rhetorische Gesten eines öffentlichen
Redners in Liebesszenen beobachten.
GESINE
DREWS-SYLLA, M.A. (KONSTANZ): GESTÖRTE INTIMITÄT IN DER
(POST)KONZEPTUALISTISCHEN, RADIKALEN KUNST DER 1990ER JAHRE
In
der (post-)konzeptualistischen Kunst der 1990er Jahre in Russland
gehören Grenzüberschreitungen vielerlei Art zu den
wichtigsten Mitteln künstlerischen Ausdrucks. Einen
zentralen Ort nehmen dabei Überschreitungen im Bereich
intimer Grenzen ein. In Anlehnung an Beate Rössler (Der Wert
des Privaten, Frankfurt am Main 2001), die die Grenze zwischen
Privatheit und Öffentlichkeit als nicht anthropologisch,
sondern konventionell festgelegt sieht, sollen im Rahmen dieses
Textes auch intime Grenzen (die von Rössler als dem Privaten
benachbart betrachtet werden) als veränderliche betrachtet
werden. Davon ausgehend, dass es dem politischen System der
Sowjetunion nicht gelang, jegliche Form von Intimität und
Privatheit zu kontrollieren, muss man auch konstatieren, dass
eine Abschaffung dieses Systems nicht automatisch eine
Respektierung der Grenzen zur Folge hatte, sondern völlig
neue Formen der Autonomieverletzung des Einzelnen hervorbrachte.
Insofern muss man bei den Grenzüberschreitungen der
radikalen Kunst der 1990er Jahre, so die These des Vortrags,
immer einen doppelten Aspekt im Auge behalten. Zum einen handelt
es sich um Grenzüberschreitungen, die vor dem Hintergrund
der Grenzziehungen in der sowjetischen Gesellschaft im Vergleich
zu den heute beobachtbaren als Ausdruck
politisch-gesellschaftlichen Wandels auf sehr radikale Art eine
Grenzverschiebung zwischen öffentlich, privat und intim zur
Folge haben; zum anderen handelt es sich um eine
Problematisierung der Verletzung der Autonomie des Einzelnen, die
ebenso posttraumatisch auf die sowjetische Vergangenheit, wie
unmittelbar auf die Gegenwart bezogen ist. Die gestörte
Intimität der postsowjetischen Kunstszene hat somit, so
schockierend sie im einzelnen auch ausfallen mag, letztlich die
Autonomie und damit die Respektierung der Grenzen von privat und
intim sowohl für das Individuum als auch für die
Gesellschaft zum Inhalt. Anhand der Kunst von, unter anderem,
Aleksandr Brener, Oleg Kulik Ljudmila Gorlova, soll genauer
geklärt werden: - in welchen Formen (gestörte)
Intimität thematisiert wird - in welche öffentlichen
Räume sich die gestörte Intimität einschreibt -
welche Grenzen durch diese Störungen der Intimität
gezogen und/oder überschritten werden - inwiefern die
Grenzüberschreitungen Grenzverschiebungen zur Folge haben -
inwiefern Grenzverschiebungen im Zusammenhang mit
gesellschaftlichem Wandel zu sehen sein können -
inwiefern Autonomie des einzelnen und gestörte Intimität
in diesen Arbeiten im Zusammenhang stehen.
SANDRA
EVANS, M. A. (BERLIN) DIE KOMMUNALKA: EINE STUDIE ÜBER DAS
INDIVIDUUM IN GEMEINSCHAFTSSTRUKTUREN UND DESSEN BEDEUTUNG IN DER
GLOBALEN MODERNE
Von
der sowjetischen Regierung wurde die Gesellschaft als soziale
Maschine eingeschätzt und es wurden demgemäss
sozialtechnologische Maßnahmen eingesetzt, die wichtige
alltagskulturelle Veränderungsprozesse in der sowjetischen
Gesellschaft bewirkten. Um das komplexe und multidimensionale
Phänomen der Sowjetzivilisation zu untersuchen, wurden in
den letzten Jahren verstärkt kultur- und
geschichtswissenschaftliche Deutungsrahmen herangezogen, mit
denen Themenkomplexe wie zum Beispiel Alltagsgeschichte, die
Subjektivität des Individuums, und auch die Bedeutung von
Memoirenliteratur im gegenwärtigen Russland näher
erforscht und in Bezug zur politischen Konstellation im
Sowjetrussland gesetzt wurden. All diesen Betrachtungen ist eines
gemeinsam: Sie unterstreichen die Rolle des Individuums und
seiner je individuellen Erfahrungen. Die alltagskulturellen
Veränderungen haben sich in der Sowjetunion hauptsächlich
in der Kommunalka abgespielt und sind in deren organisatorischen
Alltagsstrukturen verkörpert. Nirgendwo war die
kommunistische soziale Utopie so dicht an der intensiven sozialen
Realität des stalinistischen Alltags, wie in der Kommunalka.
Im Vergleich mit dem westlichen liberal-geprägten Individuum
in Gemeinschaftssituationen sind folgende Fragen von Bedeutung:
- Welche Rolle spielt die Gemeinschaft im Verhältnis zum
Individuum und wie individuell kann ein Individuum in einer
Gemeinschaft sein? - Welche Bedeutung kommt Gemeinschaften in
einer zunehmend globalisierten Welt zu, deren Grenzen sich
öffnen, deren Gesellschaften zunehmend fragmentierter und
deren Identitäten komplexer erscheinen? - Gibt es einen
Zusammenhang zwischen den Strukturen einer sowjetischen
Kommunalka und Gemeinschaften und Gesellschaften, die die Welt
der postindustriellen, globalen Moderne gestalten? In diesem
Beitrag soll das sowjetische Individuum innerhalb der utopischen
Form des Zusammenlebens in der Kommunalka vorgestellt werden.
Dabei steht die Differenz und das Spannungsverhältnis
zwischen Öffentlichkeit und der Privat- und Intimsphäre
im Mittelpunkt. Darüber hinaus werden auch die theoretischen
Gegenüberstellungen von Individuum/Kollektiv, und
Liberalismus/Kommunitarismus herangezogen, um nicht nur die
Eigenschaften des sowjetischen Individuums darzulegen, sondern
auch dessen Besonderheiten im Vergleich zu dem westlichen
liberal-gefärbten Individuum.
NADJA
GRIGOR'EVA, M.A. (KONSTANZ): INTIMISIERUNG DER ARBEIT IM RUSSLAND
DER 1920ER-1930ER JAHRE
In
diesem Vortrag sollen einige Aspekte der Intimisierung der Arbeit
am Beispiel der Produktionsromane und Produktionsfilme in der
20-30-er Jahre untersucht werden. Intimität ist hier eine
Funktion, die die Spaltung in der Objekt-Subjekt-Beziehungen auf
den verschiedenen Ebenen aufheben soll. Die These lautet, dass
die totalitäre Nähe aus der Überwindung der
formalistischen Verfremdung entstanden ist. Drei Fragen werden
mich beschäftigen: - wie repräsentiert sich die
Mensch-Mensch-Kommunikation am Arbeitplatz - wie positionieren
sich der Arbeitnehmer zum Arbeitgeber, der Arbeiter zum Produkt
- wie werden die Beziehungen zwischen Autor und Held
(Bachtin) in den Produktionstexten thematisiert
PD
DR. THOMAS GROB (KONSTANZ): SERIELLE INTIMITÄT. ZU EINEM
MOTIV IN DER NEUESTEN LITERATUR
Die Tendenz zur
Darstellung ausgestellter Körperlichkeit und unverbrämter,
ja oft drastischer Erotik in der nach-postmodernen Literatur ist
ein in verschiedenen Literaturen beobachtetes Phänomen. In
der russischen Literatur der neunziger Jahre bis heute findet
sich ein breites Spektrum analoger Erscheinungen, die nicht
zuletzt aus konzeptualistischen Poetiken stammen (Sorokin),
später jedoch in andere Strömungen bis hin zum sog.
Neorealismus der jüngeren Generation übergreifen.
Anhand ausgewählter Beispiele soll untersucht werden, wie
körperliche Intimität im zeitgenössischen Erzählen
eingesetzt wird, wie sie sich sprachlich manifestiert und wie sie
sich mit anderen Phänomenen des Erzählens verbindet. Es
soll gefragt werden, inwiefern Intimität zwischen Figuren
wie diejenige zwischen Text und 'Leser im Text' - die über
betont mündliche Erzählweisen insinuiert wird -
realisierbar (oder wünschbar) erscheint, wie der
literarische Diskurs sich selbst zwischen 'Herstellung' und
Entzug von Intimität positioniert. Dabei soll 'Intimität'
ebenso als Paradigma des neu raumgreifenden 'anthropologischen'
Diskurses in der Literatur begriffen werden wie als
autoreferentielle Probe auf die Möglichkeit und Relevanz
literarischer Referenz überhaupt.
DR.
SABINE HÄNSGEN (BIELEFELD): KRIEG UND LIEBE. ZU EINEM
MOTIVKOMPLEX IN DEUTSCHEN UND SOWJETISCHEN FILMEN
In der
vergleichenden Betrachtung deutscher und sowjetischer Filme soll
die Frage gestellt werden, ob sich allgemeine Merkmale einer
ästhetischen Inszenierung totalitärer Pseudointimität
auffinden lassen. Der Vergleich behandelt dabei - bezogen auf
die Situation des 2. Weltkrieges - den Motivkomplex von "Krieg
und Liebe" in den populären Genres von Melodram und
Komödie, um das Wechselverhältnis von Distanz und Nähe,
Gewalt und Intimität, aber auch von Propaganda und
Unterhaltung zu diskutieren. In der konkreten Analyse, bei der
es sowohl um die Pointierung von Ähnlichkeiten als auch von
Unähnlichkeiten geht, werden Filmbeispiele aus beiden
Kulturen gegenübergestellt: Wunschkonzert (Eduard v.
Borsody / 1940); Die große Liebe (Rolf Hansen / 1942) vs
Traktoristy / Traktoristen (Ivan Pyr'ev / 1939); V šest'
casov vecera posle vojny / Um sechs Uhr abends nach Kriegsende
(Ivan Pyr'ev / 1944).
PROF.
DR. MIKHAIL IAMPOLSKI (NEW YORK): INTIMITÄT UND DIE GRENZEN
DES EGOS
Vasilij
Rozanov beschreibt das Andere / den Anderen der christlichen
Kultur - den Juden - als ein intimes Weser par excellence. Ein
negatives Anderes wird gleichzeitig in Distanz gebracht und in
eine unmittelbare Nähe gerückt. Zugleich
charakterisiert Rozanov sich selbst als warme, empfindsame
Person, dessen Element die exzessive Intimität ist. Die
Projektion "jüdischer" Eigenschaften auf sich
selbst zerstört jede Opposition von Rozanov zu seinem
Anderen und führt zur letztendlichen Identifikation mit dem
Feind. Intimität wird als psychostenische Situation
begriffen, bei der ein Austausch zwischen dem Selbst und einem
negativen Anderen stattfinden kann und wo die Grenzen des Egos
aufgelöst werden.
TOM
JÜRGENS, M.A. (KONSTANZ): INTIMITÄT ALS BESTANDTEIL DES
ÖFFENTLICHEN GEDENKENS
Die
Omipräsenz der Dichter-Museen in Russland, die "dom-usad'ba"
oder das "dom-muzej", generiert eine kanonische
Apparatur des Gedenkens, bei der der Schriftsteller nicht allein
auf Grund seines literarischen Schaffens, sondern als "Mensch"
im Vordergund steht. Dabei durchlaufen selbst minimale und intime
Details seines Lebens den Prozess einer Beatifikation, die ihren
Niederschlag auf der Objektebene findet: Alltägliches
beginnt zwischen Fetisch und Reliquie, zwischen Talisman und
Devotionalie zu oszillieren, wobei durch die Integration
wissenschaftlicher Diskurse innerhalb der musealen Exposition
zwei gegenläufige Tendenzen synthetisiert werden: einerseits
die Objektivierung der Intimität in Form der (teilweise
"pseudo"-)wissenschaftlichen Untermauerung,
andererseits die Intimisierung des Objektiven bzw.
Objektivierten, die die persönliche Teilhabe am Genius des
Anderen verheißt. Die Ausstellung des Intimen gibt damit
die Möglichkeit einer magischen Teilhabe am Kanonisierten.
Dabei verläuft das Exponieren in einer Randzone zwischen
aufklärerischem Anspruch und subversiver Romantisierung des
Gegenstandes. Vor dem Hintergrund einer zentralisierten und
institutionalisierten Verwaltung der Museen innerhalb der
Sowjetunion erhält das Ausstellen des Intimen somit eine
pragmatische Dimension, die es kontextuell zu beleuchten gilt.
DR.
IL'JA KALININ (MOSKAU): HERZENS CLIO UND NABOKOVS MNEMOZYNE. DIE
FORMIERUNG DES INTIMEN BIOGRAPHISCHEN RAUMS
Herzens und
Nabokovs Strategien, einen intimen biographischen Raum zu
formieren beruhen auf einer typologisch ähnlichen
Ausgangssituation, auf der Trennung von ihren historischen
Wurzeln. Dies setzt einen Kompensations-Mechanismus des fehlenden
referentiellen Kontextes in Gang. Herzen und Nabokov setzen
Verfahren ein, um ihren eigenen intimen Raum an die "großen
Geschichte" anzubinden.
PROF.
DR. RENATE LACHMANN (KONSTANZ): INTIME RHETORIK
Kürze
(brevitas), das nicht-zu-Ende, nicht-Aussprechen, das verkürzte
Argument (Aposiopese, Ellipse, Enthymem) sind rhetorische
Figuren, die eine intime Beziehung schaffen, sie aufrechterhalten
und nach außen hin dokumentieren. Der Vortrag will zeigen,
wie literarische Texte mithilfe dieser Figuren eine intime
Beziehung zwischen Produzent und Rezipient herstellen.
IRINA
LAZAROVA, M.A. (KONSTANZ): KÖRPERLOSE INTIMITÄT: DAS
TELEFON BEI ALEXANDER GRIN
Das Telefon als Medium fördert
die Bildung einer neuen Ebene der Intimität im Text. Durch
das Ferngespräch entsteht ein virtueller Intimraum zwischen
den Partnern, der einerseits isoliert von der restlichen Welt
ist, anderseits die Stimme von dem Körper trennt. In
Alexander Grins Erzählung Der Rattenfänger (1924) kann
das Telefon und seine körperlose Intimität aus drei
verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: - Richard
Sennetts These, dass die elektronische Kommunikation einer der
Faktoren ist, die das öffentliche Leben zum Erliegen
gebracht haben: In Grins Erzählung nähern sich zwei
nicht miteinander bekannte Figuren einander über das Telefon
an und führen den Übergang von der öffentlichen
zur Privatsphäre vor. - Telefonintimität in Bezug
auf die Liebe: die Liebe als Kommunikationscode, nach dessen
Regeln man Gefühle ausdrückt (Luhman), bildet in
Kontakt mit den Regeln des elektrischen Mediums Telefon den
Rahmen für die Erzählung - Bachtins These vom
Gegensatz zwischen Öffentlichkeit der literarischen Form und
der Intimität ihres Inhalts: Das Motiv des Lauschens der
fremden Gespräche und der Reichtum der Ton- und
Stillenuancen entwickelt sich parallel zum Lauschen durch den
Leser.
JAN
LEVCHENKO (MOSKAU-TARTU): PRIVATE UND ÖFFENTLICHE BIOGRAPHIE
VON VIKTOR SHKLOVSKIJ IN DEN 1920ER JAHREN
Nach
Shklovskijs Rückkehr aus der Emigration nahm der Bruch
zwischen seinen frühen Deklarationen und seiner
literaturkritischen Praxis einen fast grotesken Charakter an.
Shklovskijs Einzigartigkeit liegt nicht in der Autoreflexivität
seines Schreibens, sondern darin, dass er die
Literaturwissenschaft auf dem Material individueller Eindrücke
aufbaut, auf einer totalen Subjektivität. Die
Absolutisierung der Konstruktion einer Biographie Hand in Hand
mit der Privatisierung der Literatur erzeugt einen speziellen
Ideolekt, mit dessen Hilfe Shklovskij einen unendlichen Monolog
über die Literatur führte, woran auch sein ironischer
Duktus nichts änderte. Diese Ironie erscheint als Invariante
in Tret'ja fabrika, Pjat' chelovek znakomych, Ich nastojaschee,
Udachi i porazhenija Maksima Gor'kogo, in Gamburgskij schet und
Podenschina, wo die Sackgasse der Selbsterkenntnis erschöpft
wird. Dieser Prozess steht im inneren Konflikt mit den
theoretischen Voraussetzungen des Formalismus und im äußeren
mit dem sozialen Auftrag, was im Endeffekt zur bewussten
Aufhebung der Ironie und zur Verankerung des simulativen
Schreibens führt.
PROF.
DR. OLGA MATICH (BERKELEY): DAS SPIEL DER INTIMITÄT: ZINAIDA
GIPPIUS AND VASSILIJ ROZANOV
In dem Vortrag geht es um die
privaten Briefe und Tagebücher von Zinaida Gippius und
Vasilij Rozanov. Gippius' intime Texte drehen sich um die
problematischen Beziehungen mit den Männern und Frauen, mit
denen sie intensive trianguläre Beziehungen eingegangen ist:
in den 1890er Jahren Akim Volynskij, Nikolaj Minskij, Zinaida
Vengerova und Ljudmila Vil'kina-Minskij, in den 1900er Jahren -
Dmitrij Filosofov, in den 1910er Jahren - Vladimir Zlobin.
DR.
GLEB MOREV (MOSKAU): POETIK DER HOMOSEXUALITÄT IN DER
RUSSISCHEN PROSA: VON KUZMIN BIS ZU CHARITONOV
In dem
Vortrag wird die Poetik der homoerotischen Poetik in der
russischen Prosa des 20. Jahrhunderts am Beispiel zweier
zentraler Autoren untersucht: Michail Kuzmin und Evgenij
Charitonov. Beleuchtt werden die soziokulturellen Folgen der
Homosexualität für die Schriftstellerbiographien von
Kuzmin und Charitonov, die sich aus unterschiedlichen sozialen
und kulturellen Bedingungen ergeben haben. Das Werk von Kuzmin
und Charitonov wird als die Realisierung zweier unterschiedlicher
Typen einer homosexuellen Ästhetik, zweier Modelle der
Positionierung des Schriftstellers im Sozium, zweier
Autorenvarianten der Beziehung zwischen der intimen und der
öffentlichen Sphäre in der Kultur gedeutet.
DR.
RICCARDO NICOLOSI (KONSTANZ): DEGENERIERTE INTIMITÄT. "DIE
HERREN GOLOVLEV" VON SALTYKOV-SCEDRIN UND DEGENERIERUNG DER
FAMILIE
Im
Vortrag soll um den Zusammenhang zwischen Degeneration
und Familienroman am Beispiel von Scedrins "Die Herren
Golovlev" gehen. Intimität wird hier als eine Form
von Regression dargestellt, die zugleich Entfremdung und
Solipsismus bedeutet. Mit dieser negativen Konnotation ist
Intimität Teil eines breiten Degenerationsdiskurses
im russischen Realismus, an dem Saltykov-Scedrin partizipiert
und der im Vortrag ebenfalls erläutert werden soll.
DR.
OL'GA ROGINSKAJA (MOSKAU): DIE FORMIERUNG DER INTIMITÄTS-FELDER
IN AUTODOKUMENTARISCHEN TEXTEN
Der Vortrag befasst sich
mit der Formierung eines speziellen intimen Feldes in
autobiographischen Texten (Tagebüchern, privaten Briefen,
autobiographischen Narrativen). Der Leser solcher Texte befindet
sich unwillkürlich in der Position des Voyeurs: Verstohlen
betrachtet er Details aus dem Privatleben des Autors. Ein
autobiographischer Text funktioniert als das öffentlichgemachte
Private. Das intime Feld ist das Ergebnis einer solchen
Autor-Leser-Beziehung in autodokumentarischen Texten.
DR.
SYLVIA SASSE (BERLIN): VERHÖR UND BEICHTE: NIETZSCHES
"PATHOS DER DISTANZ" UND TOLSTOJS LEHRE VOM
MITLEID
"Es steht niemandem frei, für
Zarathrustra Ohren zu haben...", sagt Nietzsche auf den
Hinweis, dass die Rede Zarathrustras "nur zu den
Auserwähltesten" gelange, dass es ein Vorrecht sie zu
hören sei. Tolstoj hingegen will über sein Schreiben
eine Gemeinschaft stiften, die von der Einfachheit der Rede und
der Ehrlichkeit des Gefühls gebildet wird. Der eine, so
scheint es, schreibt, um Abstand zu halten und dadurch zu
selektieren, der andere hingegen um zu involvieren. Ausgehend von
der These, dass bei Nietzsche das Verhältnis zum Leser als
Verhör, als Ausleseprozess, und bei Tolstoj als Beichte,
entworfen ist, möchte ich versuchen nachzuzeichnen, wie
beide zentrale Stellen ihrer Philosophie als ästhetische
Erfahrung zu übermitteln suchen. Bei Nietzsche handelt es
sich um das Pathos der Distanz als Abstandhalter zum Leser, bei
Tolstoj um eine unmittelbare Übertragung der Gefühle
des Autors an den Leser, die er mit seinem Konzept der Ansteckung
und seiner Lehre vom Mitleid beabsichtigt.
PD
DR. SCHAMMA SCHAHADAT (KONSTANZ): BRIEFE SCHREIBEN -
FREUNDSCHAFTSBRIEFE, LIEBESBRIEFE, BRIEFE AN DIE MUTTER
Der
Briefwechsel ist der Ort par excellence, an dem eine intime
Beziehung hergestellt werden kann. Der dialogische Charakter des
Briefes, das Spiel mit Anwesenheit und Abwesenheit, die
Imagination von Liebe und Freundschaft und die Eigen- und
Fremstilisierung stellen Nähe und Abstände her,
verschieben und unterlaufen sie. Anhand unterschiedlicher
Brief-Genres aus verschiedenen Epochen (die Liebesbriefe
Zhukovskijs an Masha Protasova, der Briefwechsel des
Stankevich-Kreises, Aleksandr Bloks Briefe an seine Mutter) soll
der Briefwechsel als intimes Feld untersucht werden.
PROF.
DR. IGOR' SMIRNOV (KONSTANZ): DIE AUFFASSUNG VON NÄHE IN DER
RUSSISCHEN KULTUR
Der Vortrag befasst sich mit zwei Arten,
an Gott zu partizipieren; beide waren in der russischen Kultur
von Relevanz: mit der hesychastischen Entfernung vom kollektiven
Leben und dem Konzept der "sobornost'", das eine
Benachbarkeit der Einzelkörper in der Kirche voraussetzt.
DR.
FRANZISKA THUN (BERLIN): LIEBE IM GULAG. AM BEISPIEL DER
ERINNERUNGSTEXTE VON EVGENIJA GINZBURG, VARLAM SHALAMOV, CHAVA
VOLOVICH
Die Lager des GULag sind die drastischste Form
eines "erzwungenen allgemeinen Zusammenlebens" (F.
Dostoevskij), dem der einzelne in der Sowjetunion über Jahre
oder gar Jahrzehnte ausgeliefert sein konnte. Die
Lagergemeinschaft bedeutete für jeden Gefangenen extreme
äußere Nähe und fortwährendes
Beobachtetsein. Dem aufoktroyierten Verlust jeglicher Privatheit
steht das ungestillte Bedürfnis des einzelnen nach
Vertrautheit, nach Liebe, nach einer auch noch so minimalen Form
von Intimität gegenüber. Vor diesem Hintergrund werden
in dem Vortrag Lagererinnerungen unter zweierlei Perspektive
untersucht: Einerseits wird dargestellt, auf welche Art und Weise
in ihnen dieses Verhältnis von Intimitätsverlust und
Intimitätssehnsucht thematisiert wird (wobei Liebe und
Sexualität im Lager ein vielfach tabuisiertes Thema ist).
Und andererseits wird nach dem Zusammenhang von verschriftlichter
Ich-Konstruktion und sowjetischen Disziplinierungspraktiken
gefragt, genauer gesagt, nach der Sprecherposition in
ausgewählten Erinnerungstexten von Evgenija Ginzburg, Varlam
Shalamov, Chava Volovich.
PD
DR. ANJA TIPPNER: ADRESSAT (UN)BEKANNT: VIKTOR ŠKLOVSKIJS
ZOO, ILI PIS'MA NE O LJUBVI Im Jahr 1923 veröffentlichte
Viktor Sµklovskij sein Zoo, ili pis'ma ne o ljubvi. Den
neunundzwanzig Briefen, die der Band enthielt, stellte er ein
Vorwort sowie einen einleitenden Brief voran. Folgende Ausgaben
Buches ergänzte er um neue Vorworte. Darüber hinaus
wird jeder einzelne Brief, durch einen kleinen Kommentar
eingeleitet. Sµklovskijs Briefe sind demnach zweifach
gerichtet: zum einen an eine Alja genannte Frau und zum anderen
an den Leser. Intimität funktioniert in Šklovskijs
Buch als "Perspektiv". Sie organisiert sowohl die
Kommunikation mit der geliebten Frau als auch diejenige mit dem
Leser. Der Autor praktiziert hier zwei Formen der
Distanzkommunikation, zum einen die epistolarische der geliebten
Frau und zum anderen, die auktoriale mit seinen unbekannten
Lesern. Beide Kommunikationen spiegeln das Problem von
An/Abwesenheit. Durch seine proliferierenden Vorworte und
Erläuterungen, die dem eigentlichen Textkorpus - den Briefen
- gleichsam aufgepfropft sind, stellt Šklovskij über
die in den Briefen reklamierte und eingeforderte Nähe noch
eine zweite Form von Intimität her, die hier paratextuelle
Intimität genannt werden soll. Sie zielt auf einen
unbekannten Adressaten, der, anders als Alja, der zwei Briefe
zugeschrieben werden und die in Brieftexten durch ihre eigenen
Äußerungen herbeizitiert wird, unbeschrieben und
wortlos bleibt. Über die Briefe und durch die Briefe führt
Šklovskij also nicht nur einen Diskurs mit der geliebten,
aber unerreichbaren Frau, sondern auch mit seinen prospektiven
Lesern, einem unbekannten Gegenüber.
HEIKE WINKEL
(BERLIN): ZWISCHEN AUFDRINGLICHKEIT UND REGRESSION. FORMEN DER
INTIMITÄT IM BRIEFVERKEHR
Die besondere Produktivität
des Briefes als Ort der Konstituierung und Verhandlung intimer
Beziehungen liegt darin begründet, dass die Struktur des
Briefwechsels, mit Niklas Luhmann gesprochen, die Struktur
intimer Kommunikation abbildet. Briefe implizieren eine intime
Beziehung zwischen Absender und Adressaten vor bzw. unabhängig
vor ihrem Inhalt. Gleichzeitig kommen im Briefverkehr
Schrifteffekte zum Tragen, die einem harmonischen dialogischen
Austausch entgegenwirken und die Korrespondenten zeitlich und
räumlich auf Abstand bringen. Darüber hinaus
konstituiert der Brief sich in einem Spannungsfeld zwischen
Öffentlichkeit und Privatheit, das in dem von Simmel
aufgezeigten Gegensatz zwischen schriftlicher Verfasstheit und
postalischer Geheimhaltung angelegt ist. Diese strukturellen
und medialen Bedingungen schriftlicher Kommunikation bewirken,
dass intime Beziehungen im Brief im reflektierenden Umgang mit
dem Genre er- bzw. beschrieben werden. Indem Korrespondenten im
Briefwechsel die Valenzen des Konzepts Intimität
durchspielen und sie dabei auch als instabil vorführen,
vollziehen sie eine Bewegung, in der Intimität als
(literarische) Imagination verselbständigt und potenziert
wird. Dabei werden in Korrespondenzen der Moderne zunehmend
literarische Inszenierungen und Modelle intimer Korrespondenz
aufgenommen und verarbeitet. Die Tatsache, dass der Brief per
se eine intime Struktur evoziert, macht ihn, im Zusammenhang mit
seiner Intimität potenzierenden Wirkung geeignet als Mittel
der (ästhetischen wie politischen) Inszenierung von
Beziehungen. Das bedeutet einerseits, dass der öffentliche
Raum mit Hilfe des Briefes als ein privater gezeigt werden kann,
lässt den Brief aber in den Händen ihrer Absender auch
zur Waffe werden, mit deren Hilfe sie sich ihrem Adressaten
aufdrängen. Wer einen Brief schreibt, behauptet damit die
Existenz einer (intimen) Beziehung.
DR.
DMITRIJ ZAKHARINE (KONSTANZ): DER WANDEL DER INTIMITÄT
Der
Begriff "Intimität" hat im modernen Sprachgebrauch
mehrere Implikationen: - Zum einen bezieht er sich auf eine
Vorstellung von der körperlichen Distanz, die nicht mehr als
70 cm betragen soll. Noch größere körperliche
Annäherungen, die in der Sozialpsychologie als skallierende
Intimtiätsgroessen betrachtet werden, setzten außerdem
die Beteiligung bestimmter Körperteile voraus. Stereotype
Intimtiätssituationen entstehen beispielsweise durch die
Annäherung der Lippen und Genitalien. Weniger eindeutig ist
die Annäherung der Rückenteile (so beispielsweise im
Busgedränge) oder der Hände (bei politischen Treffen).
Auch bleibt es fragwürdig, ob beispielsweise der Handkuss,
der eine Respektbekundung gegenüber der Herrschaft und
gegenüber den Edeldamen kennzeichnete, in historischen
Kontexten der europaeischen Hofgesellschaft als Zeichen der
Intimität qualifiziert werden soll. - An die Vorstellung
von der Intimtitaet als System von Distanzzeichen schliesst sich
das Konzept symbolischer Intimitätsraueme. So wurden
insbesondere im bürgerlichen 19. Jh. bestimmte Räume,
wo man z.B. natuerliche Bedürfnisse verrichtete (die
Toilette), den Körper gewaschen hat (das Badezimmer), wo man
schlief (das Schlafzimmer), zum Teil aber auch solche, wo man
gelesen und geschrieben hat (das Arbeitszimmer), als
Intimitaetsräeume definiert und vom öffentlichen
Gebrauch isoliert. - Zum dritten bezieht sich der Begriff
"Intimitaet" auf die Vorstellung von einem bestimmten
Gesprächsthema, das nicht mit jedem ausgetauscht werden kann
und auf der symbolischen Ebene mit einer körperlichen Naehe
korrelliert. Die Antwort auf die Frage, wie der distanz-,
raum- und sprachbezogene Intimitätscode heute zu definieren
ist, bedarf eines speziellen Wissens über gesellschaftliche
Makro- und Mikrostrukturen. Im vorliegenden Vortrag wird ein
Versuch unternommen, die Ausdifferenzierung des Intimitaetscodes
in historischen Kulturlandschaften Ost- und Westeuropas
vergleichend zu untersuchen.
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