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Intimität: "Wer kommuniziert mit wem und wie etabliert Kommunikation eine intime Beziehung?" – das ist die allgemeinste Frage, die das Projekt stellt. Intimität wird als diskursive, kommunikative Strategie definiert, die die enge Definition einer erotischen Beziehung transzendiert (Berlant, 2000, Rössler, 2001, Streisand, 2001). Es soll herausgefunden werden, wie intime Beziehungen in verschiedenen Textgattungen und kulturellen Räumen in Russland unter verschiedenen historischen Bedingungen hergestellt werden. Ausgehend von George Batailles Definition der Religion – Religion als "Suche nach einer verlorenen Intimität" (Bataille 1997, 50) – und seiner Darstellung der paradoxen Situation des Menschen, der sich einerseits in einer "intimen Ordnung" befindet, einem kontinuierlichen, undifferenzierten In-der-Welt-sein (Bergfleth 1997, 213), andererseits in der Ordnung der Dinge (Bataille 1997, 46), wird das Projekt untersuchen,

  • wie Distanz im Kommunikationsakt minimiert wird;

  • wie das Subjekt sich in der Welt, in Gott, im Paar oder im Dreieck auflöst.

Initmität wird als Spiel zwischen Nähe und Distanz aufgefasst: Je intimer eine Beziehung ist, desto stärker wird die Distanz reduziert. Das kann einerseits eine Beziehung von Freiheit und Gleichheit bedeuten oder, im Gegenteil, eine Beziehung ungleicher Machtverhältnisse.
Intimität wird zudem im Zusammenspiel mit und in der Abgrenzung von verwandten Konzepten wie Privatheit und Öffentlichkeit behandelt; die These ist, dass Intimität, im Gegensatz zu diesen, ein bewegliches Konzept ist – das Intime bewegt sich zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum und setzt diese Räume in Bewegung.

Intime Beziehungen: Die Genese intimer Beziehungen – so die These – liegt in der mystischen Beziehung zwischen Ich und Gott (s. dazu, z.B., Scheler 1923, Bataille 1997). In Russland waren die Hesychasten die ersten, die an Gottes Energie partizipierten und eine Kommunikation von Ruhe und Gebet praktizierten. Das mystische Paar ist der Prototyp für die intime Beziehung zwischen zwei (Paar), drei (Dreieck) oder mehr (Kollektiv) Personen. In diesem Zusammenhang werden unterschiedliche Formen intimer Beziehungen untersucht: die mystische Einheit, Paare, (Liebes-)Dreiecke, Freundschaften, rezeptionsästhetische Beziehungen, die allesamt Beispiele für intime Strukturen sind. Dabei werden Konflikte zwischen familiären und sozialen Bindungen in Betracht gezogen (z.B. Konflikte zwischen der Familie und dem Gesetz, Familienstrukturen vs. Familie als soziale Entscheidung, Liebe und Macht, Begehren und Vernunft).

Geschichte der Intimität in der russischen Kultur: Intimität in Russland – und das ist ein zentrales Argument für das Projekt – ist an die Macht gebunden, wird von ihr benutzt und pervertiert, und als solches lässt Intimität sich als Schlüsselkonzept der russischen Kultur deuten. Die Konstruktion des intimen Feldes in der russischen Kultur ist durch historische Gegebenheiten bedingt: Dichter waren die Lehrer der Zarenkinder, Nikolaj I. war Puškins persönlicher Zensor, Stalin gab sich als Vater des Vaterlandes. Die intime Beziehung zwischen dem Individuum und der Macht/dem Staat ergibt sich aus der Vorherrschaft des Privaten und dem Fehlen eines öffentlichen Raums in der russischen Gesellschaft. Nach der Revolution liefen Öffentlichkeit und Privatheit zusammen, und Intimität avancierte zu einem allumfassenden Konzept – hier ist eine Anbindung an die Unterprojekte (Radikale Anthropologie und Kommunalka) gegeben (s. dazu unten, S. 12-20). Die enge Beziehung zwischen Intimität und Macht, die sich durch die russische Kultur zieht, erreicht in der Stalinistischen Kultur einen Höhepunkt.
Intimität beginnt also in Russland – wie auch im Westen – mit den Mystikern; in Russland setzen die Hesychasen im 15. den Anfang; im 18. und 19. Jahrhundert greifen mystische Gemeinschaften die Form der intimen Kommunikation mit Gott wieder auf. In der Romantik erlangt Intimität eine weltliche Dimension; die romantischen Philosophen schreiben intime Briefe (Čaadaev), und sie schreiben über Intimität. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird Intimität revolutionär: Die Dekabristen und die Revolutionäre der 1860er und 1870er Jahre operieren auf der Grundlage intimer Organisationsstrukturen im Untergrund. eHeHesEin weiterer Aspekt der Intimität im 19. Jahrhundert ist die Zwangsintimität, eine erzwungene Nähe, wie wir sie in Dostoevskijs und Jadrincevs Beschreibungen des Gefangenenlagers finden. In den 20er Jahren taucht die Zwangsintimität in verschiedenen Formen kommunaler Lebensformen wieder auf; in der dom-kommuna, dem Kommune-Haus, der 1920er Jahre ebenso wie in den Kommunalwohnungen bis in die Gegenwart. Romantik, Symbolismus und Stalinismus sind epochale Zentren für das Projekt: In der Romantik wurde die Intimität sowohl zwischen Liebenden als auch zwischen Freunden kultiviert (Koschorke spricht in dem Zusammenhang von einer "emotionalen Erwärmung" in der Kommunikation, 2003); im Symbolismus entwarfen die Religionsphilosophen intime Perspektiven auf die Welt (Vladimir Solov'ev, Lev Karsavin, Pavel Florenskij); in der Stalinistischen Kultur wurde Intimität zu einem zentralen Bestandteil des Diskurses der Macht – und damit auch der Kunst. Intimität avancierte in der Stalinistischen Kultur zu einer öffentlichen Pflicht; der Staat ersetzte die Familie, und die Familienmitglieder zeichneten sich durch größtmögliche Transparenz aus.

Intime Texte, intime Räume: Das intime Feld wird in Texten und kulturellen Räumen etabliert, im Genre des Briefes ebenso wie in den Traditionen des Platonischen Dialoges, im literarischen Salon und auch in kommunalen Lebens- und Arbeitsräumen.

  • Briefe: Dichter haben Liebesbriefe geschrieben (z.B. Vasilij Žukovskij und Maša Protasova), Briefe an Freunde, die ebenfalls Dichter waren (z.B. das Briefkorpus von Arzamas oder der Briefwechsel Aleksandr Blok/Andrej Belyj), Briefe an ihre Mütter (z.B. Aleksandr Bloks Briefe an seine Mutter) und Briefe an das Zentrum der Macht (z.B. Michail Bulgakovs Briefe an Stalin) – wie stellen sie in ihren Briefen eine intime Beziehung zum Adressaten her?

  • Der platonische Dialog ist in der russischen Kultur von Vladimir Solov'ev in seinen Tri razgovory/Drei Dialoge über die Perepiska iz dvuch uglov/Briefe aus zwei Zimmerwinkeln von Vjačeslav Ivanov und Michail Geršenzon bis hin zu der Avantgarde-Gruppierung Činari und den "Moskauer Küchengesprächen" (wie sie zum Beispiel in den Gesprächen zwischen dem Künstler Il'ja Kabakov und dem Kunsttheoretiker/Philosophen Boris Groys kultiviert wurden) weiterentwickelt worden; ein weiterer Aspekt sind die e-mail-Gespräche zwischen Akademikern (z.B. die e-mail-Korrespon­denz zwischen Boris Groys und Igor' Smirnov; Groys/Smirnov 2001). Das Gespräch als medialer Zwilling des epistolaren Genres hat nicht nur das Medium verändert, sondern auch die Teilhaber des Gesprächs – die Gesprächspartner sind nicht mehr Freunde oder Liebende, sondern Akademiker, Philosophen, Künstler.

  • Der literarische Salon im frühen 19. Jahrhundert ist ein Raum, der sich durch seine familiäre Atmosphäre auszeichnet und der als Domäne der Frau gilt. Die "atmosphärische Wärme" (Koschorke) des Salons zieht die Entstehung bestimmter Genres nach sich, so die stichi na slučaj/Gelegenheitsgedichte und die bout rimées ­– prä-litera­ri­sche Formen, die intim kommuniziert werden. Zudem ist der literarische Salon höchst erotisiert; vor allem im 18. Jahrhundert spielte die Erotik eine wichtige Rolle für das self-fashioning im Salon. Memoiren (z.B. von Vjazemskij), literarische Texte, die im Salon-Raum produziert werden (Karolina Pavlova, Mjatlev, Koz'ma Prutkov) und die über den Salon geschrieben werden (Puškins Prosa-Fragmente; der Anfang von Lev Tolstojs Vojna i mir/Krieg und Frieden) sollen analysiert werden – das (intime) Gespräch im Salon wird anhand der biographischen und der literarischen Rede über den Salon untersucht werden. Ein offiziell-inoffizielles Pendant des Salons ist der Ball; in vielen Romanen und Erzählungen des 18. und 19. Jahrhunderts ist der Ballraum ein öffentlicher Raum, in dem intime Dinge gesagt und getan werden.

  • Die Analyse kommunaler Räume wird sich auf Künstler-Kommunen und -Woh­nungen konzentrieren (z.B. auf die kvartira LEFa/die Wohnung der Linken Front der Künste) und auf Experimente kommunalen Zusammenlebens (z.B. auf die mystischen Kom­munen, wie z.B. die der Chlysten, auf die Kommunen der 1860er Jahre und die post-revolutionären utopischen Architekturprojekte). In welcher Beziehung stehen diese kommunalen Räume zum literarischen Salon? Für die Analyse werden sowohl reale kommunale Projekte als auch literarische Entwürfe kommunalen Lebens und Ar­beitens (Nikolaj Černyševskijs Roman Čto delat'/Was tun? von 1864, Nikolaj Les­kovs Nekuda/Nirgendwo, 1864) berücksichtigt werden. (Die Kommunalwohnung von den 1920er bis in die Gegenwart ist der Untersuchungsgegenstand von Unterprojekt 2.)



Hauptprojekt

Intime Texte, intime Räume. Zur Konstruktion von Intimität in der russischen Kultur.

Wie stellen verschiedene Textgenres und kulturelle Räume eine intime Beziehung zwischen den Sprechenden / Lesenden / Schauenden her? Zur Klärung dieser Frage wird Intimität als Diskurs-phänomen aufgefasst, als etwas, das rhetorisch oder kontextuell hergestellt wird. Untersuchungs-gegenstand ist die russische Kultur; die Arbeit ist typologisch ausgerichtet und befasst sich mit verschiedenen Formen von Intimität – mystische Nähe, romantische Intimität, Intimitätszwang der Stalinistischen Kultur – seit dem 16. Jahrhundert.

Intimität / Privatheit / Öffentlichkeit
Angesichts der zunehmenden Globalisierung und Entgrenzung des Privaten durch die Medien zeigt sich in neuester Zeit ein verstärktes Bedürfnis danach, Nischen von Privatheit zu definieren; davon zeugen der von Lauren Berlant herausgegebene und viel diskutierte amerikanische Sammelband Intimacy (Berlant 2000) Marianne Streisands "Intimitaet" (Streisand 2001) und Beate Rosslers Untersuchung Der Wert des Privaten (Rossler 2001). In Berlants Band meint Intimitat vor allem auch Sexualitat, deren Setzung in Strukturen der Moral, der Macht, der Rhetorik und der Kunst diskursanalytisch ausgeleuchtet wird. Streisand untersucht die Explosion des Intimitaets-Begriffs auf dem deutschen Theater um 1900 und deutet Intimitaet als Epochenbegriff. Die Philosophin Beate Rössler bindet das Thema Privatheit ein in die Frage nach der Autonomie des Individuums, vor allem des weiblichen, in der liberalen Gesellschaft.

Klassische Texte, die sich mit dem Status von Öffentlichkeit und Privatheit / Intimität / Innerlichkeit berücksichtigen, sind Habermas (1983) zur bürgerlichen Gesellschaft, von Graevenitz (1975) zum Fallbeispiel der Pietisten, Sennett (1994) mit seiner These vom "Verfall des öffentlichen Lebens". Speziellere Werke, wie Batailles Theorie der Religion (1997), das einen eng an den Menschen als Anthropologicum gebundenen Begriff des Intimen / Immanenten entwickelt, oder Luhmanns Liebe als Passion (1994), wo Intimität an die Liebesbeziehung und damit an Liebe als "symbolischen Code" geknüpft ist, bieten Ausgangspunkte für die Definition des intimen Genres.

Forschungsliteratur zum privaten Leben, wie z. B. Ariès (1989 ff.), ist zu berücksichtigen, ebenso Untersuchungen speziell zum Privat- bzw. Alltagsleben in Rußland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Dazu zählen unter anderem sowohl Jurij Lotmans kultursemiotische Arbeiten (z. B. Lotman 1994) wie auch Svetlana Boyms (1994) Darstellung der Kultur der Stalinzeit, dazu auch der Sammelband von Günther (2000).

Familie/Freundschaft/Liebe/Nähe
Als klassischer Text zur Beschreibung verwandtschaftlicher Strukturen ist immer noch Claude Lévi-Strauss' Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft heranzuziehen, ebenso seine Interpretation des Ödipus-Mythos (Die Struktur der Mythen), wo "zu enge" bzw. "zu weit entfernte" Familienbeziehungen als Basis für jedwede Narration erscheinen. Judith Butlers (post-)feministische Analyse Antigones Verlangen (Butler 2001) schließt daran an und konzentriert sich, im Rückgriff auf Hegel und Lacan, auf den Konflikt zwischen Staat (Öffentlichkeit) und Familie (Privatheit), zwischen Familie und Gesetz. Daneben werde ich kulturanthropologische Arbeiten zur Familie, die Engels' Untersuchung über den Ursprung der Familie aufgreifen und sich gegen den strukturalistischen Ansatz Lévi-Strauss' wenden, einbeziehen; so ist Carol Westons Buch Families We Choose (Weston 1991) für die Differenz zwischen Verwandtschaft aufgrund von Blutsbanden und Verwandtschaft aufgrund einer sozialen Entscheidung, wie sie in den (post-)revolutionären und avantgardistischen Familienmodellen in Russland anzutreffen ist, von theoretischer Bedeutung. Basistexte für die Differenzierung von Gesellschaft und Gemeinschaft sind natürlich Ferdinand Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft (Leipzig 1887) und Plessners Gegenentwurf Grenzen der Gemeinschaft von 1927 (Plessner 1981).

Für den Komplex Freundschaft sind klassische Texte zu berücksichtigen (Aristoteles' Überlegungen zur Freundschaft in der Eudemischen Ethik, Ciceros Laelius de Amicitia, Montaignes Über die Freundschaft); ein Buch, das die Frage nach dem Politischen der Freundschaft aufwirft, ist Derridas Politik der Freundschaft (Derrida 2000). Eine Untersuchung zur Männerfreundschaft, die für den Punkt "Freundschaftsbriefe" (s.u.) wichtig ist, ist der Aufsatz von Freudenburg (1997); das Thema "Männerbünde" beleuchtet einen weiteren Aspekt der Freundschaft (s. dazu z.B. Widdig 1992).

Auch zum Thema Liebe sind antike Texte hinzuzuziehen (Platons Symposium), ebenso russische philosophische Texte der Neuzeit (Vladimir Solov'evs klassischer Essay Smysl' ljubvi/Der Sinn der Liebe). Zum Thema Liebe ist die umfangreiche soziologische, an die Systemtheorie anknüpfende Forschungsliteratur (u.a. Giddens 1993; Hinderer 1997, Fuchs 1999) ebenso von Interesse wie kulturgeschichtliche Untersuchungen (z.B. Gay 1987); Arbeiten zum Thema Liebe und Sexualität in Russland berücksichtigen den Gender-Aspekt (Costlow/Sander/Vowles 1993, Puškareva 1999) bzw. sind diskursanalytisch ausgerichtet (Naiman 1997). Einschlägig ist Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit (Foucault 1993); s. auch José Ortega y Gasset, Estudios sobre el amor (1926-27)

Über Nähe hat Jampol'skij eine ausführliche Arbeit geschrieben (2001); darin konzentriert er sich auf die Verletzung der Distanz in der Beziehung von Betrachter und Objekt. Über die Reduzierung der Distanz im Stalinismus s. z.B. Günther (1997), Schramm über subversive Affirmation des Schriftstellers Leonid Dobyčin im Kontext der totalitären Ästhetik (Schramm 1999, 191ff.), Smirnov über die Sakralisierung, Diskursivierung (und damit auch Intimisierung) der Gesellschaft im Sozrealismus (Smirnov 1994, 275-289); an der Universität Konstanz ist gerade eine Habilitationsschrift zum Thema "Abstand" entstanden (Za­kharine 2005).

Zuschauer
Zum Aspekt der Öffentlichkeit sind Arbeiten über das Publikum und den Zuschauer zur Kenntnis zu nehmen, da die Beziehung zwischen dem Zuschauer und dem Theater (s. dazu z.B. Fischer-Lichte 1997, Streisand 2001) oder jene zwischen dem Zuschauer und dem Film (Paech/Paech 2000) modellhaft für eine intime Beziehung steht. Viele klassische medientheoretische Auseinandersetzungen mit dem Film berücksichtigen den Aspekt des Zuschauers, konkret die Wirkung des Mediums auf den Zuschauer und die Interaktion zwischen beiden (so Boris Ejchenbaums Probleme der Filmstilistik, Siegfried Kracauer in seiner Theorie des Films, André Bazin in Die Entwicklung der kinematographischen Sprache).

Daneben existiert eine ausführliche Forschungsliteratur zum Zuschauer, die berücksichtigt wird: historische Zuschauerforschung (z.B. Allen 1990, Hansen 1991), Filmpsychologie (eine Übersicht dazu findet sich bei Margolis 1988 und bei Mayne 1993), feministische Filmheorie (z.B. Koch 1976, Hansen 1986), Empathie-Forschung (z.B. Plantinga/Smith 1999).

Korrespondenzen: Freundschaftsbriefe, Liebesbriefe, Verwandtschaftsbriefe
Allgemeine Abhandlungen zum Privatbrief in Abgrenzung zum offiziellen Brief bieten Altman (1982), Anderegg (2001); Basner (1999); Siegert (1993); Overlack (1993); Reinlein (2003). Fontius (1995) befasst sich mit dem Brief als 'alternativem' Genre zur Literatur. Speziell den romantischen Brief behandelt Bohrer (1987), wobei er die Verbindung zwischen dem Brief als "Herzensschrift", der Subjektbildung und -darstellung schafft. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zum Aspekt Brief und Gender (Hämmerle/Saurer 2003; Kaufmann 1986; Runge/Steinbrügge 1991), die insofern von Interesse sind, als der Brief als Genre häufig mit dem intimen Raum als weiblichem Raum in Verbindung gebracht wird. Der Brief im Kontext von Intimität wird berücksichtigt von Richter (1996) und Winkel (2002, 2003); allgemein zu Brief und Schrift s. Koschorke (2003), Schmitz-Emans (1995); das Genre des Briefes, das immer einen performativen Aspekt enthält, wird speziell unter der Perspektive von Brief und Performativität behandelt bei Sasse (2002). Eine Arbeit speziell zum russischen Freundschaftsbrief hat Todd III (1976) geschrieben; Todd konzentriert sich auf die prä-romantischen Freundschaftsbriefe der Gruppe Arzamas, wobei er die Briefe von Arzamas in einem zeitgeschichtlichen Kontext situiert; dabei geht er von keiner theoretischen Fragestellung aus. Diese Aufgabe ist von mir noch zu leisten.

Es gibt relativ wenig theoretische Literatur zum Liebesbrief (s. zum Beispiel Clauss 1993); die meisten Briefausgaben russischer Schriftsteller an ihre Ehefrauen bzw. Geliebten enthalten einen Vorspann über diesen speziellen Briefwechsel (z.B. Belov/Tunimanov 1979 über den Briefwechsel zwischen Puškin und Natal'ja Gončarova; Levkovič 1986 über die Korrespondenz zwischen Dostoevskij und seiner zweiten Frau, Anna Grigor'evna Dostoevskaja; Jangfeldt, 1982, über die Liebesbriefe von Vladimir Majakovskij und Lilja Brik). Auch hier ist eine literaturtheoretische/kulturwissenschaftliche Aufarbeitung erforderlich.

Gespräch/Dialogizität/Psychoanalyse
Als Ausgangspunkt für jede Analyse eines Gesprächs ist immer noch Bachtin (Problemy poėtiki Dostoevskogo/Probleme der Poetik Dostoevskijs, Slovo v romane/Das Wort im Roman, Bachtin 1975, 1979) aktuell; Bachtins Untersuchungen dienen auch in dem in der Reihe Poetik und Hermeneutik erschienenen Sammelband (Das Gespräch, Stierle 1994) als Bezugstexte. Grassi/Schmale (1982) interessiert das Gespräch aus semiotischer Perspektive. Der Sammelband Materialität der Kommunikation (Gumbrecht/Pfeiffer 1995) umfasst eine ganze Reihe von Beiträgen, die sich mit der Materialisierung der Rede, dem Verschriftlichen, Verkörperlichen, Erinnern von Rede befasst.

Da die zu analysierenden Gespräche sich zum Teil explizit auf die Psychoanalyse als talking cure beziehen, sind Breuers und Freuds Studien über Hysterie (Breuer/Freud 1997) zu berücksichtigen, evt. weitere Arbeiten zur Hysterie, die den Aspekt des Sprechens einbeziehen (z.B. Christina von Brauns genderorientierte kulturwisssenschaftliche Arbeit NICHT ICH, die von einer Opposition zwischen Logos und Körper ausgeht, von Braun 1994).

In der Linguistik gibt es eine ausführliche Forschungsliteratur zu Gesprächen über intime Themen (Goll 1996, Jefferson/Sacks/Schegloff 1987) und über die Herstellung von 'Intimitätskommunikation' (z.B. Fischer 1993); da diese Arbeiten kommunikative Verfahren analysieren, mithilfe derer das Gesprächsthema intimisiert wird, sind sie für meine Ausgangsfrage "Wer stellt wie Intimität her?" von zentraler Bedeutung.

An Forschungsliteratur zu den zu untersuchenden Gesprächen ist vor allem jene über die Gruppe Činari zu nennen; die Činari sind im Zuge einer Aufarbeitung der Avantgarde intensiv ediert (Lipavskij 1993) und untersucht (Druskin 1985, Hansen-Löve 1996, Žakkar 1995, Matkovič 1998, v.a. letztere konzentriert sich auf den Dialog) worden. Die Gruppe Medizinische Hermeneutik behandelt Sasse (2003) im Kontext der Aktionen spät- und postsowjetischer Kunst.

Der literarische Salon
Zum westeuropäischen Kontext des Salons s. noch immer Seibert (1993); in einem neueren Aufsatz liest Seibert den Salon als Modell für spätere kommunikative Räume wie Literatencafé und Internetcafés (Seibert 1988); allgemein zum Salon s. zum Beispiel auch Lougee (1976), speziell zum russischen Salon s. Aronson (1929), Brodskij (1930), Städtke (1978), Murav’ev (1987). Es gibt einzelne Untersuchungen über Dichter, deren Wirken primär (oder auch) im Salon stattgefunden hat (Greber 2000, zu Karolina Pavlova; Berkov 1933, zu Koz'­ma Prutkov; Kovarskij 1969, zu Ivan Mjatlev; im europäischen Kontext: Esselborn 2002 zu Novalis, Greber 2000a zu dem Ehepaar Byron). Greber (2000a) berücksichtigt auch den Gender-Aspekt, der für die Salongattungen von Bedeutung ist.

Für meine Fragestellung ist zum einen Literatur zu spezifischen Salongattungen zu Rate zu ziehen (wie z.B. die stichi na slučaj/Gelegenheitsgedichte, Albumlyrik, Bout rimées, s. dazu Greber 2002), zum anderen beziehe ich mich auf Memoiren aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert (s. dazu die Sammelbände Russkie memuary: izbrannye stranicy, XVIII vek und Russkie memuary 1800-1825 gg.); in diesem Zusammenhang ist Georg Wittes noch nicht erschienene Monographie über Autobiographien im 18. Jahrhundert zu berücksichtigen (Blicken und Schreiben. Autobiographische Szenen im Rußland des 18. Jahrhunderts). Allgemein zur Adelskultur dieser Zeit s. Lotman (1994).

Lebensräume
Der Punkt 'Lebensräume' soll sowohl kommunale Wohn- und Lebensprojekte umfassen als auch öffentlich gemachten Privatraum. Allgemein zum kollektiven Kunstwerk s. Kunstforum (1991), wo an Beispielen sowohl utopischer Künstlergemeinden vom Anfang des Jahrhunderts (Monte Verità) bis hin zu den Situationisten die Verbindung zwischen künstlerischen und utopischen Idealen beleuchtet wird.

Architektonische Entwürfe kommunalen Wohnens in der postrevolutionären Avantgarde sind abgehandelt von Chan-Magomedov (Chan-Magomedow 1983, 1995) und Senkevich (1990); zu Wohn- und Liebesprojekten der Avantgarde s. Matichs einschlägigen Aufsatz (Matich 1991). Neuere Untersuchungen bzw. Überlegungen zur Kommunalwohnung sind z.B. Michail Ryklins Terrorrologiki und Kabakow/Groys (1991, 83-91). Zu westeuropäischen Pendants kommunaler Wohnutopien s. Koenen (2001) zur Kommune I.

Da dieses Thema einen kunstwissenschaftlichen Bezug impliziert, lassen sich intimisierte Räume von der Kunstkammer, wo Öffentlichkeit und Privatraum konzentriert zusammentreffen (zur Kunstkammer s. u.a. Bredekamp 2000), über Kurt Schwitters' Merzbau bis hin zu Il'ja Kabakovs Projekten in Russland und später im Westen (dazu z.B. Kabakov 1995, 1995a, 1995b sowie Kabakow/Groys 1996 über die Installationen, Glanc 1999, 122-153 über das Sehen von Kabakovs Installationen) als Bezugspunkte hinzuziehen.

Ziele und Arbeitsprogramm
"Wer spricht wie mit wem und erzeugt auf diese Weise eine intime Beziehung zwischen den Sprechenden / Lesenden / Schauenden?" ist die Ausgangsfrage, der das Projekt nachgehen will. Es soll herausgefunden werden, wie verschiedene Textgenres und kulturelle Räume in Russland zu verschiedenen Zeiten Intimität herstellen und wer welche Position in dieser intimen Beziehung besetzt: Ich und Welt, Ich und Gott, Sprechender und Hörender, Zeigender und Schauender, Schreibender und Lesender.

Eine intime Kommunikation ist darauf ausgerichtet, Individualität zu minimieren, mit dem Ziel des Aufgehens des Individuums in der Welt, in Gott, im Paar oder auch seiner gewaltsamen Einbindung in einen vom Staat kontrollierten Kollektivkörper. Damit befindet Intimtität sich in einem Wechselspiel von Nähe und Distanz: Je intimer die Beziehung ist, desto stärker wird dem Anderen die Distanz genommen, was einen Aspekt von Gewalttätigkeit in diesen scheinbar hierarchie- und gewaltlosen Raum einbringt. Intimität kann aber auch das Gegenteil vom Aufgehen im Anderen nach sich ziehen, ein zu-sich-Kommen mithilfe des Anderen, das Subjekt-Werden durch diesen Anderen.

Georges Bataille bezeichnet die Religion als die "Suche nach der verlorenen Intimität" (Bataille 1997, 50) und konstatiert zugleich eine paradoxe Situation, in der der Mensch sich befindet: in der Mitte zwischen einer "intimen Ordnung", einem kontinuierlichen, unterschiedslosen In-der-Welt-Sein (Bergfleth 1997, 213), und der Ordnung der Dinge (Bataille 1997, 46). Diese so spezifisch Bataille'sche Definition von Intimität eignet sich als Arbeitsdefinition für den intimen Text, der den Abstand zwischen Produzent/in und Rezipient/in möglichst zu minimieren sucht und sich auf die konative und die phatische Funktion der Kommunikation konzentriert, wie auch für den intimen Raum, wo die Utopie eines Kollektivs erzeugt wird, das die Rolle der Familie übernimmt. Zu berücksichtigen ist die Spannung zwischen dem Kunstwerk als Gabe des Autors an den Leser auf der einen Seite und als Gefangennahme des Lesers auf der anderen (so Smirnov 2001, 148, über die littérature personnelle).

Eine intime Beziehung kann auf verschiedenen Ebenen hergestellt werden; diese überschneiden einander zum Teil:

  • auf einer rhetorischen Ebene, bei der eine besondere Art intimer Rhetorik betrieben. "To intimate is to communicate with the sparest of signs and gestures, and at its root intimacy has the quality of eloquence and brevity", schreibt Lauren Berlant (2000, 1). Kürze (brevitas), das nicht-zu-Ende, nicht-Aussprechen, das verkürzte Argument (Aposiopese, Ellipse, Enthymem) sind rhetorische Figuren, die eine intime Beziehung schaffen, sie aufrechterhalten und nach außen hin dokumentieren. Gerade der Aspekt der Rhetorik stellt die Verbindung her zwischen Intimität als kulturellem / anthropologischem Phänomen und als literarischem Problem.

  • Eine andere Möglichkeit, Intimität zu erzeugen, ist der Kontext – die an den Herrscher gerichtete Ode, die Beichte, der Brief, das Geständnis, das intime Theater, der Kinofilm implizieren eine intime Beziehung.

  • auf einer inhaltlichen Ebene, bei der der Inhalt Intimität impliziert (so gilt jede Thematik, die den Bereich der Scham betrifft, als intim). Die intime Thematik erfordert eine besonders enge Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern, was im literarischen Kontext (Autobiographien, literarische Beichten etc.) dazu führt, dass eine Art literarisierter bzw. inszenierter Intimität entsteht.

Eine Situierung des intimen Feldes in Abgrenzung zur und im Zusammenspiel mit Öffentlichkeit zieht den Aspekt von Macht und Gewalt nach sich; das intime Feld definiert sich in Beziehung zu diesen: Derjenige, der eine intime Beziehung etabliert, kann einen utopischen, machtfreien alternativen Ort schaffen, er kann aber auch, ganz im Gegenteil, Gewaltakte vollbringen, indem er sein Gegenüber intimisiert, ihm die Möglichkeit zu Distanz nimmt. Ein Beispiel für eine solche Anwendung von Gewalt ist Vladimir Nabokovs Roman Lolita.

Speziell in der russischen Kultur, wo intime Strukturen häufig an die Staatsmacht gebunden sind (wenn Dichter Zarenkinder unterrichten, wenn Nikolaj I. der persönliche Zensor Pu_kins ist, wenn Stalin sich als Vater der ganzen Nation gibt), herrscht eine dynamische Beziehung zwischen Intimtität und Macht. Intimität ist in dieser Konstruktion doppelt besetzt: Usurpiert von der staatlichen Macht, impliziert sie Lüge und Gewalt, während die vom Staat zur Intimität gezwungenen Untertanen versuchen, eine eigene, private Intimität zu entwickeln. So erscheint Intimität in Rußland, wo spätestens seit dem 17. Jahrhundert eine Spaltung in eine offizielle und inoffizielle Kultur herrscht (zum religiösen Schisma, das sich als kulturelles und auch als semiotisches interpretieren läßt, s. Uspenskij 1994 und Lachmann 1987), als ein Zustand, bei dem die Beziehung zwischen dem Intimen und dem Öffentlichen in ständiger Bewegung ist.



Unterprojekt 1

Strategien der Kulturanthropologie in russischen und westlichen Konzepten der 1920er und 1940er Jahre. Der Homo ludens bei M.M. Bachtin und Helmuth Plessner“
Dr. Des. Nadežda Grigor'eva

Der Neue Mensch in Russland – Anthropologische Entwürfe vom Neuen Menschen in Westeuropa – Material für die Analyse – Wissenschaftliche Bedeutung des Projekts – Fragestellungen

Der Neue Mensch in Russland: In den verschiedenen post-revolutionären Epochen der sowjetischen Kultur wird der Neue Mensch jeweils unterschiedlich konzeptualisiert, wobei Intimität und Entfremdung die antagonistischen Bezugspunkte für die anthropologischen Entwürfe sind. Die Revolution hat einen Neuen Menschen projektiert, der auf eine eigene Individualität verzichtet hatte. Dieser Mensch hat die Grenzen zwischen Privat und Öffentlich aufgehoben und einen gemeinsamen intimen Raum im Staat geschaffen; Erik Naiman hat sich in seiner Monographie Sex in Public (Naiman 1997) damit beschäftigt. In der zweiten Phase der Russischen Revolution, als die Sowjetunion sich zum Stalinismus hin bewegte, nahmen die utopischen Projekte eine neue Wende; der Neue Mensch in den 30er Jahren sah anders aus als jener in den 20ern. Gegen Ende der 1920er und in den 30er Jahren markierten Michail Bachtins Theorie vom Karneval sowie die Idee eines polyphonen Bewusstseins diese Veränderungen in der Vorstellung vom Menschen. Die eurasischen Philosophen und Historiker befassten sich in der Emigration mit ganz ähnlichen Problemen, darunter Lev Karsavin, der den idealen Menschen als symphonische (hybride) Persönlichkeit entwarf. Aber auch ein Gegner der eurasischen Bewegung wie Georgij Fedotov hat sich mit anthropologischen Studien befasst, die das Problem der Freiheit betrafen. In dieser Epoche oszillieren Perspektiven auf den Menschen zwischen zwei Extremen: der Idee von der Einheit der Menschen in einer kollektiven "All-Einheit" und dem Konzept vom Menschen als transgressive Persönlichkeit, die menschlichen Standards entfremdet ist (Transhumanisierung). Der dialektische Bruch zwischen Intimität und Entfremdung, der in der russischen Kultur von den 1920er bis zu den 1940er Jahren angelegt ist, wird ein zentrales Thema des Projekts sein.

Anthropologische Entwürfe vom Neuen Menschen in Westeuropa: Sowohl in Westeuropa als auch in Russland zeichnet sich die Zeit zwischen den 1920er und 1940er Jahren durch eine intensive Entwicklung radikaler Entwürfe vom Menschen aus, die in Konzepten von Nähe/Ferne bzw. Intimität/Entfremdung ausgeführt werden. Hier lassen sich einige Beispiele nennen: Für Georges Bataille (Théorie de la religion, 1948) ist der Mensch, der mit Werkzeugen arbeitet, derjenige, der eine intime Beziehung zur Natur hat. Roger Caillois (L'homme et le sacré, 1939) wendet seinen Entwurf auf alle Lebewesen an, um zu zeigen, dass sie in enger Beziehung zu ihrer Umgebung existieren und so in diesen aufgehen können (Mimikry). Ernst Jünger (Der Arbeiter: Herrschaft und Gestalt, 1932) fokussiert Intimität auf die Menschen, die gänzlich in ihrem Arbeitsprozess aufgehen. In Carl Schmitts Staat, Bewegung, Volk – Die Dreigliederung der politischen Einheit von 1933 dominiert die nationale Gesetzgebung internationale Rechte. Der neue Rechtsmensch entsteht, laut Carl Schmitts, in seiner näheren nationalen Umgebung. Das der Intimität entgegengesetzte Phänomen, die Entfremdung, ist das zentrale Argument in Helmut Plessners Antwort (Grenzen der Gemeinschaft, 1924) auf Ferdinand Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887. Zentral für Plessners Konzept vom Menschen ist eine Persönlichkeit, die ihre Rolle in der Gesellschaft ausprobiert, indem sie sich ständig von sich selbst entfremdet. Arnold Gehlens Mensch (in Der Mensch von 1940) verlagert seine Begierden in eine unbestimmte Zukunft. Im Unterschied zu Carl Schmitt ist die Gattung Mensch für Gehlen erst in der distanzierten Zukunft gegeben. Ein weiterer Entwurf vom Neuen Menschen findet sich in der negativen Anthropologie Heideggers, wo dieser das menschliche Dasein dem Sein zu Opfer bringt. Hier lässt sich an die postrevolutionäre/Stali­nistische russische Kultur anschließen: Die Bereitschaft der sowjetischen Helden, sich aufzuopfern, erscheint als negative Anthropologie in actu. Diese Selbstaufopferung fand vor allem im literarischen (fiktionalen) Diskurs ihren Ausdruck: der russische Literaturzentrismus unterscheidet sich von dem westeuropäischen Philosophiezentrismus.

Material für die Analyse: Da der philosophische Diskurs in der Stalinistischen Kultur strengen Regeln unterworfen wurde, fand das radikale anthropologische Denken in anderen Diskursformen statt (in der Literatur und Ästhetik) und auch in anderen Medien (Kino, architektonische Utopien): in Andrej Platonovs Romanen und Erzählungen, in Aleksandr Afinogenovs Drama Strach/Angst, in Ieremija Ioffes Kunstsoziologie, in Jurij Olešas und Abram Rooms Film Strogij junoša/Der strenge Jüngling, in den Projekten der agro-industriellen Städte und der VDNCH (Vystavka dostiženij narodnogo chozjajstva/Ausstellung der Errungenschaften der Landwirtschaft).

Wissenschaftliche Bedeutung des Projekts: Die Frage nach der Beziehung von "Macht und In­ti­mität" wird in konzentrierter Form von ethnographischen und post-kolonialen Studien gestellt, die die Erkenntnisse von Foucault und Derrida in ihre Untersuchung von (politischer) Gewalt und von Gender Identitäten aufgreifen: zu nennen ist hier Michael Herzfeld, der in seinem Buch Cultural Intimacy (1997) die "intime" Rhetorik kollektiver Selbst-Reprä­senta­tion untersucht und dabei auf seine Feldstudien in den USA, Afrika und Westeuropa zurückgreift. Mein Projekt zur "Radikalen Nähe – radikalen Distanz" positioniert sich, dem entgegengesetzt, in einem eher diskursanalytischen als ethnographischen Rahmen und befasst sich vor allem mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Projekt hat das Ziel, anthropologische Ansätze zum Verständnis von Intimität/Entfremdung in den 1920er/1940er Jahren weiter zu schreiben, wie zum Beispiel Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte (1994), wo die Opposition von einer Kultur der Scham und einer Kultur der Schuld explizit gemacht wird, oder Giorgio Agambens Homo sacer (1998), das sich mit der Schnittstelle zwischen dem juridisch-institutionellen und dem biopolitischen Modell von Macht befasst.

Fragestellungen: Das Ziel des Projekts liegt darin, aus komparatistischer Perspektive Entwürfe vom Neuen Menschen zu untersuchen, ausgehend von den Konzepten "Intimität", "Nähe", "Entfremdung", "Privatheit", "Öffentlichkeit", die auf verschiedenen Ebenen genauer herausgearbeitet werden sollen. Um diese Ziele zu erreichen, wird das Projekt um die folgenden Fragestellungen herum organisiert:

  • Wie reflektieren und beeinflussen die Begriffe "Nähe" und "Distanz" die anthropologischen Perspektiven von Mitte der 1920er Jahre bis in die 1940er Jahre?

  • Lassen sich russische und westliche Entwürfe vom Menschen hinsichtlich der Begriffe Intimität/Entfremdung vergleichen?

  • Wo liegt das Spezifikum des sowjetrussischen anthropologischen Denkens zwischen den Weltkriegen?

  • Welche Rolle spielen die Medien und die neuen Technologien dieser Zeit (speziell das Kino) in der Formierung von Nähe/Distanz zwischen den Neuen Menschen?

Um diese Fragen zu beantworten, sollen verschiedene Forschungsansätze miteinander verbunden werden, zum Beispiel Kulturanthropologie, politische Studien und Medienwissenschaften unter der Dominanz der Diskursanalyse.

Das Ergebnis wird einerseits dazu führen, dass die politischen und kulturellen Bedingungen der Epoche besser verständlich werden, auf der anderen Seite wirft das Projekt einen neuen theoretischen Blick auf die radikalen Nähe-/Ferne-Beziehungen in der menschlichen Kultur. Die einzelnen Arbeitsschritte und Ergebnisse sollen auf Workshops und Tagungen diskutiert und in Publikationen einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Ergebnisse sollen in Buchform publiziert werden.



Unterprojekt 2

Geschichte(n) der Kommunalka: Zur Recodierung von Intimität
Sandra Evans, MA

Die Macht und der Raum – Fragestellung – Totale Intimität – Methode - Ausblick

Die Macht und der Raum: "Die Ohnmacht der Macht war immer auch eine Ohnmacht gegen den Raum, den sie nie in den Griff bekommen hat", erklärte der Historiker Karl Schlögel zum Untergang der Sowjetunion (Schlögel 2003). Als fortschrittliches Labor für den zukünftigen Kommunismus (Stites 1989, 205), als stalinistische Kollektivierung des Alltags (Martiny 1960), als dominante städtische Wohnform der Sowjetunion (ebd.) war die sowjetische Zwangswohngemeinschaft (auf Russisch kommunal'naja kvartira, oder verkürzt kommunalka genannt) ein Ort bzw. Raum, in dem wichtige sozial-kulturelle und politisch-ideologische Prozesse der sowjetischen Gesellschaft stattgefunden haben. Obwohl dieser Lebensraum anfänglich nur als Not- und Übergangslösung zur Behebung der Wohnungsnot gedacht war, erkannten die Bolschewiki jedoch die sozialtechnologischen Möglichkeiten und verknüpften ihre Propagierung mit ideologisch-politischen Zielsetzungen. In diesem Sinne ist die Kommunalka ein weiteres Beispiel für die von Schlögel angeregte Begrifflichkeit des „Sichdurchwurstelns“ (Schlögel 2000) deren Auswirkungen oft unerkannte und unkontrollierbare Gegenentwicklungen mit sich brachten.

Gegenstand dieser Untersuchung ist die Interaktion zwischen dem sowjetischen Regime und seinen Subjekten, die hier gleichermaßen als Objekt und Akteur behandelt werden. Auf welche Weise hat die Regierung versucht, in die Privatsphäre der Bewohner einzugreifen, und wie haben diese sich gegen den enormen Intimitätszwang in der Kommunalka und den Druck der Regierung zur Wehr gesetzt? Dabei werden die Organisationsstrukturen der Alltagsgestaltung herangezogen, um Symbole, Rituale und Kommunikationssphären, die den Raum der Kommunalka prägten, auszuarbeiten.

Fragestellung: Dass die Ordnung des Wohnraumes ein entscheidender Faktor der Gesellschaftsordnung insgesamt ist und das Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum wesentlich prägt, ist hinlänglich bekannt. Am Beispiel der Kommunalka soll der Grenzziehung sowie der Wechselwirkung zwischen privatem (intimem) und öffentlichem Raum nachgegangen werden. Die Kommunalka als sowjetische Institution wird in diesem Zusammenhang einerseits als Mikrokosmos der Sowjetzivilisation verstanden und andererseits als Kommunikations- und Erfahrungsraum sowie Informationsspeicher.

Dabei geht es haupsächlich um die Frage, wie Intimität im kulturellen Raum der Kommunalka, im Wechselspiel von Nähe und Distanz und in Abgrenzung zur und im Zusammenspiel mit der totalen Öffentlichkeit, hergestellt wurde. Darüber hinaus soll untersucht werden, wie soziokulturelle und politisch-ideologische Dynamiken in Räume eingeschrieben werden und welche Wirkung sie auf die Intimitätskonstruktion des Einzelnen haben. Inwiefern wurde die sowjetische Gesellschaft durch offizielle und inoffizielle räumliche (An)Ordnung strukturiert?

Totale Intimität: Durch das Kollektiv – die gesellschaftliche Manifestation des Regimes – beanspruchte die sowjetische Kultur eine intime Beziehung mit jedem einzelnen Bürger: Private Angelegenheiten waren öffentliche, d.h. intime Angelegenheiten. Der hoch politisierte Raum der Kommunalka und dessen totale und polymorphe Öffentlichkeit enthielt verschiedene Teilaspekte der klassischen („westlichen“) Differenzierung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit: 1) die der bürgerlichen Öffentlichkeit und politischer Meinungsbildung nach Habermas, 1976, und Arendt, 1958; 2) die des „öffentlichen Platzes“ für spontane Begegnungen und flüssige Geselligkeit (fluid sociability) heterogener Individuen und Gruppen, im Sinne von Ariès, 1995, und Sennett, 1977; 3) die grundsätzliche Ambivalenz von Privatheit in ihrer emanzipatorischen und repressiven Funktion, die u.a. in einer politisch-philosophischen Diskussion der feministischen Theorie geführt wird. Anhand dieser unterschiedlichen Diskurse über Öffentlichkeit und Privatheit lässt sich die vielschichtige und komplexe Zusammensetzung von Öffentlichkeit in der Kommunalka erkennen. Diesbezüglich wird nicht nur für die Analyse von „Gesellschaften sowjetischen Typs“ mit ihren unterschiedlichen Kommunikationssphären und asymetrischen Kommunikationsprozessen für eine Öffnung des Begriffs plädiert (Rittersporn / Rolf / Behrends 2002). Schon Wein­traub (1997, 7) hat in seinem wichtigen Beitrag zum Sammelband Public and Private in Thought and Practice darauf hingewiesen, dass sich jene zwei Begriffe nicht ausschliessen, sondern ein­an­der bedingen und eine dynamische Beziehung eingehen. Diese dynamische Beziehung, die autonome Charakteristika aufzeigt, soll in den sozialen, infrastrukturellen und politischen Rahmensetzungen innerhalb der Kommunalka interpretiert und untersucht werden.

Methode: In dieser Arbeit soll die Idee und die Realität der Kommunalka in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahren anhand von kulturgeschichtlichen und raumsoziologischen Methoden in den Blick genommen werden. Dabei soll nicht Raum als konstitutives Element der sozialen Welt thematisiert werden, sondern räumliches Handeln, das an die körperliche Erfahrung von Nähe und Distanz und Arichtektursymbolik zurückgebunden wird. In den 1920er Jahren bildeten sich in den Kommunalkas feste Ordnungsstrukturen heraus, die das Zusammenleben der Bewohner ebenso regulierten, wie sie den Kontakt zu den zuständigen staatlichen oder städtischen Behörden sicherstellten. Ziel dieser Arbeit ist eine Rekonstruktion der Genese dieser ideologisch-politischen und alltagskulturellen Kommunikations- und Organisationsstrukturen, die Ende der 1930er Jahre weitgehend abgeschlossen waren und die in den einzelnen Kommunalkas bis in die jüngste Vergangenheit Bestand hatten.

Anhand der in Quellen festgehaltenen Tatbestände, der Handlungs- und Motivationsindikatoren und Kommunikationssymbole sollen vergangene Sinn- und Erfahrungswelten rekonstruiert werden. Um die strukturellen Überreste des Alltags mit Geschichte(n) auszufüllen und Einblick in die (polymorphen) Lebenswelt(en) des sowjetischen Individuums und dessen Alltagsarchitektur zu erhalten, werden in erster Linie zeitgenössische literarische Werke (z.B. Nikolaj Ėrdman, Michail Bulgakov, Zoščenko, Maksim Gor'kij, Evgenij Zamjatin, A. N. Tolstoj und Il'f und Petrov) und Filme (am bekanntesten ist wohl Abram Room Tret'ja meščanskaja/Die dritte bürgerliche Straße von 1926), die die Kommunalka als sowjettypischen Wohn- und Lebensraum während des Stalinismus darstellen und thematisieren, hinsichtlich ihres Quellenwertes für die Arbeit ausgewertet; allerdings soll auch von der anderen Seite her versucht werden, die Einwirkung der Kommunalka auf die Kunst herauszufiltern – gibt es eine spezifische "Kommunalka-Narration"; bringt die Kommunalka als Thema ganz bestimmte Sujets hervor (zum Beispiel das Liebesdreieck als Folge der Raumnot)? Gibt es spezifische "Kommunalka-Genres" (Satire)? Ausgewertet werden auch Zeitungsartikel und, soweit diese vorhanden sind, offizielle Beschwerdeschreiben und Meldungen an die Hausverwaltung bzw. die Konfliktkommission sowie Gerichtsakten von Verfahren für Wohnungsangelegenheiten, die als Quellenmaterial herangezogen werden.

Ausblick: Die Geschichte der Kommunalka soll in dieser Arbeit als ein Phänomen plausibel gemacht werden, das nicht auf den Kontext der Sowjetunion reduzierbar ist. Es wird vielmehr von der Annahme ausgegangen, dass Sowjetrussland kein Ausnahmefall, sondern im Gegenteil ein wichtiger Bestandteil der pan-europäischen Moderne gewesen ist. (Holquist, 1997 und Hoffmann, 2003) Am Beispiel der Kommunalka lässt sich beobachten, dass die erzwungene Nähe in der Wohngemeinschaft nicht etwa das solidarische Miteinander der Bewohner befördert, sondern im Gegenzug zu einer größeren Distanz unter den Bewohnern führt, zu Mechanismen der Abschirmung und des Rückzugs in einem Raum der totalen Öffentlichkeit. Es wird davon ausgegangen, dass die Erkenntnisse dieser Arbeit ungeachtet ihrer historischen, politisch-soziologischen und ideologischen Spezifik wichtige Fragen der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaftsanalyse ansprechen und verdeutlichen.







Zuletzt geändert am 30.03.06 von Sandra Evans.